Schorsch war eine Schildkröte, eine besondere Schildkröte. Als ich ihn kennenlernte, damals vor einigen Jahren hielten die Tiere des Waldes und besonders die Schildkröten ihn für hoffnungslos verrückt. Sie müssen wissen, Schildkröten sind stolz auf ihren Panzer. Ihr Panzer wächst mit ihren Lebenserfahrungen. Wir glauben alle, dass sei wichtig, das sei ein Schutz vor den Gefahren des Lebens.
Es begann nun alles mit einem Traum: der kleine Schorsch, noch jung an Jahren und voller Träume saß eines frühen Morgens auf einer kleinen Anhöhe jenseits des Waldbaches. Mit seiner Mutter beobachtete er das allmorgendliche Spektakel, wenn die ersten scheuen Lichtstrahlen den neuen Tag ankündigen. „Kleiner Schorsch, du musst wissen, wir Schildkröten sind die robustesten Tiere des Waldes. Das Geheimnis unserer Zähigkeit und unseres langen Lebens ist dein Panzer.“ sprach seine Mutter würdevoll. „Mein Panzer drückt…“ nuschelte der Jungspunt. „Dein Panzer wächst mit dem Leben. Und desto härter das Leben, desto härter auch dein Panzer.“ erwiderte seine alte Mutter ruhig. Just in diesem Moment schwang sich der Kranich von unterhalb ihrer Anhöhe aus den Baumwipfeln hinauf, der neuen Sonne entgegen. Er tauchte ein in den weiten blauen Himmel, drehte zwei Schleifen und verschwand aus dem Sichtfeld der Schildkröten.
Schorsch konnte seinen Augen nicht trauen „Mama, Mama, ich werde Flieger!!!“ – diese mit zögerndem Augenrollen: „Quatsch! Du bist ein Tier des Bodens.“. Wenn ein Traum ein Baum ist, so waren diese Worte ein Blitzschlag. Der junge Schildkröterich robbte zurück in den Wald, unter den hilflosen Augen der Mutter. „Wir sind, was wir sind und müssen werden, was wir sind.“ dachte diese.
In unserem Wald gibt es einen versteckten Weiher, den nur die wenigsten kennen. Ein schöner Ort, ein Ort voller Ruhe, umgeben von einer Wiese, deren bunte Blumenvielfalt und hohes Gras zum toben auffordert. Schorsch war nicht nach toben, obgleich auch ein Teil seines kleinen Schildkrötenherzes tobte. Er kroch durch das hohe Gras, näherte sich dem Weiher, und nahm nachdenklich auf seinem Lieblingsstein Platz. Gerne kam er hierher, wenn er sich freimachen wollte von allen Konventionen, die sein ungestümes Herz einengten. Er liebte die Freiheit, er liebte die Natur – eine Libelle schwirrte knapp an seinem weit geöffneten Nasenlöchern vorbei. Seine Augen wurden groß. „Fliegen…“ seufzte er. Sein Blick folgte der schillernden Libelle in weiten, neugierigen Kreisen und kam unwillkürlich zum stehen. Schorschs Kiefer klappte förmlich runter. Sein eben noch dahinschwirrender Blick war vollends gefangen, als er auf der anderen Seite seines Weihers den Kranich erblickte. Dies war das wohl wunderschönste, majestätischste Wesen, welches unser Jungspunt bisher gesehen hatte. Verschüchtert kroch er ein Stück zurück in das Gras, um nicht entdeckt zu werden. Eine ganze Weile saß er so da, und beobachtete bloß wie diese junge Kranichdame ihr Gefieder pflegte und dabei immer wieder ihr schillerndes Federkleid über ihren leuchtenden Schnabel mit Wasser aus dem Weiher benetzte. „Schooorsch, kleiner Schorsch, wo bist du!?“ riefe aus der ferne unverhoft seine Mutter. Die junge Dame, verschrocken von dem Lärm, schaute nun direkt in Richtung des versteckten Schildkröterichs, dessen Augen sich kaum von ihr lösen konnten auch wenn er sich sicher war, dass sie ihn zwischen dem Gras schon entdeckt haben musste.
Die Kranichdame strecke ihren langen Hals in die Höhe, öffnete ihre Flügel und war auch schon weg, als die Mutter hinter ihm mit mahnendem Blick auftauchte. „Ich muss fliegen!“ dachte Schorsch und trotte mit seiner Mutter nach Hause, während er immer wieder den Blick zum Weiher wand.
Am nächsten Morgen, als noch Dunkelheit über den Wipfeln lag, machte sich Schorsch davon. Es gab einen Hügel auf der anderen Seite des Waldes. Dieser war noch viel höher als die Anhöhe vom vergangenen Morgen – hier würde er sie wieder erspähen können. Die ganze Nacht hatte er von ihr geträumt – von der majestätischen Kranichdame, er, der plumpe, gepanzerte Schildkrötenjüngling. Wenn er an einem Ort fliegen lernen konnte, dann dort.
Also kroch er durch den Wald, bis er an den Fuß des Berges kam. Schorsch blickte entlang der grasbewucherten Felswand empor zur Hügelkuppe. Es mussten bestimmt an die 80 Schorschlängen sein, die sich über ihm erstreckten. Nach einer Weile ziellosen Herumrrobbens entdeckte er einen kleinen serpentinenartigen Weg, der sich an einer teils vom Gehölz verdeckten Stelle ganz zur Kuppe hinauf wand, so dass er nach einiger Zeit oben ankam. Hier war die Luft ganz anders, frischer und noch waldiger als ganz unten. Die ersten Vogelstimmen waren zu vernehmen, während unser Jüngling sich durch das dunstige Gras auf den Weg zum Rand der Erhöhung machte, um einen neugierigen Blick zu riskieren. Das Gras wölbte sich unter dem Geschaufel seiner Beinchen beiseite und gab schließlich auch den Blick frei. Ein schier endloses Meer aus Baumwipfeln, hier und da unterbrochen von wenigen Lichtungen oder kleinen Erhöhungen, ähnlich aber nicht ansatzweise so hoch wie jene, auf der er stand. Auch unmittelbar über den Baumkronen lag eine leichte Dunstschicht die von den warmen Strahlen der Sonne nun auch in ein verheißungsvolles orange schimmerndes Licht getaucht wurden. Und vor dem schüchternen Himmelblau – die Morgenvögel. Schorsch Herz schlug höher.
Umso mehr, als er den Blick nach unten riskierte – das war ungewohnt für eine Schildkröte. „Ich will fliegen! Jetzt!“ dachte er. Aber einfach waghalsig runterspringen? Schorsch war ein Träumer, aber ein lebensfroher Träumer. Lange hatte er bereits die Vögel des Waldes beobachtet und deren Flug aufmerksam studiert, da kam ihm die Idee: Flügel, es braucht Flügel. Ernüchtert nahm der kleine Schildkröterich auf einem flachen Holzstumpf Platz und blickte in die Ferne – seine Gedanken schweiften entlang seinem fragenden Blick in die Ferne.
So versunken konnte er auch nicht merken, wie sich die Schlange ihm näherte. „Na, lebensmüde, mein junger Freund?“ zischelte die junge Schlange, während sie sich leise schlängelnd näherte. „Nein“, entgegnete er leise „verliebt… verliebt in einen Traum… und einen Vogel.“. Die Schlange stutzte. „Nur zu, lass deinen Träumen freien Lauf.“ zischelte sie mit fester Stimme. „Ich kann nicht, ich bin eine Schildkröte, eine plumpe, gepanzerte, schwere Schildkröte. Ich kann ihr nicht folgen, nicht an ihrer Seite sein. Wir Schildkröten sind Tiere des Bodens.“. Die Schlange kam näher an Schorsch, baute sich auf und schaute ihn aus mahnenden Augen an: „Es gibt keine Bodentiere. Wie heißt du, mein junger Freund?“. Der Schildkröterich stellte sich zunächst zögernd vor, erzählte der Schlange dann aber alle Details, vom Gespräch mit seiner strengen Mutter am vergangenen Tag, dem Erscheinen der Kranichdame am Weiher und seinem tollkühnen Plan.“. „Dann müssen deine Träume fliegen lernen. Komm, wir bauen ihnen Flügel!“ forderte ihn die Schlange auf. Schorsch trottete dem wendigen neuen Freund neugierig durch die noch Feuchte Wiese des Hügels hinterher.
Die beiden suchten sich Äste aus dem leichtesten Holz und befestigten daran frische Blätter der seltensten Bäume des Waldes. Lange waren sie unterwegs, ehe sie am späten Nachmittag wieder auf der Kuppe ankamen. Auf Schorsch Panzer gebunden befand sich nun sein neuer Satz Flügel – Schildkrötenflügel. Die schönsten und die einzigsten, die er je gesehen hatte. Stolz glänzte in seinen Augen. „Ich habe gesehen, mein Freund, wie die jungen Eulen den Flug lernen, ich werde es dir berichten.“ erklärte die Schlange ernst.
Die junge Schildkröte lauschte gebannt und trainierte später angestrengt und begeistert. Eine ganze Zeit verging, ehe sich die beiden Kompagnons eines diesigen Tages wieder auf dem Hügel trafen, bereit den Flug zu wagen. Alle ihm zur Verfügung stehende Kraft steckte Schorsch jetzt in die Bewegung der Flügel – seine Beinchen ruderten wild, angespannt kroch er in höchstem Schildkrötentempo an den Rand des Hügels und sprang. Doch kein Stein des Waldes hätte schneller fallen können als Schorsch. Als er sich nach beherztem Sprung in der Luft befand, sah es im ersten Moment so aus, als würden die Schwingen ihn tragen. In der Ferne glaubte er die Kranichdame erspähen zu können, als er ins straucheln kam und sein harter Panzer ihn in die Tiefe riss. Erbarmungslos näherte er sich unter Stoßgebeten dem Wipfelmeer und sollte bald, so fürchtete Schorsch, auf dem Boden zerschellen. Er schloss die Augen, der Luftstrom raste an ihm vorbei. Dunkel.
Wie viel Zeit vergangen war, wußte der Schildkrötenjüngling nicht, als er zaghaft und verschwommenen Blickes die Augen öffnete, geweckt von einer sanften Stimme. Die Schlange? Nur zögerlich nahm er die schemenhaften Umrisse eines großen Schnabels war. Sein Herz begann zu rasen, während sich der Blick klärte und die Besinnung hastig zurückkam. „Hallo, geht es dir gut, Flieger?“ – „Das weist du vielleicht besser als ich.“ erwiderte Schorsch, noch leicht duselig in einem frechen Tonfall, der ihm bei vollem Bewusstsein in dieser Situation nicht entglitten wäre. Über ihn gebeugt Stand sie.
Jetzt musste Schorsch doch heftig nuschelnd um Fassung ringen. „Oh oh, ähm, nun…“. „Ein Wesen, wie dich habe ich noch nicht gesehen.“ sagte die Kranichdame. „Wieso? Was ist falsch an mir?“ – „Gar nichts…denke ich“. Schorsch blickte an sich herab, sein Panzer war weg. Er musste ihn verloren haben, als er durch die Wipfel gestürzt war. Im ersten Augenblick ängstlich, fühlte er sich aber ganz plötzlich unglaublich frei. Begeistert tollte er über über Waldboden. Die Kranichdame war verblüfft und doch begeistert von diesem verrückten Schildkrötenjüngling. Begeistert zeigte er ihr die schönsten Stellen des Waldbodens und sie lehrte dem federleichten Schorsch das fliegen. So wurde aus ihm, die erste flugfähige Schildkröte – unbeholfen, aber flugfähig. Und aus der Schildkröte und dem Kranich das bekannteste Paar unseres Waldes.
Gemeinsam sah ich die beiden noch viele Abende in den Sonntenuntergang fliegen und vernahm ihre fröhlichen Stimmen in und über dem Wald. Es ist jetzt aber eine Weile her, dass ich den Schildkrötenmann und die Kranichdame zu Gesicht bekommen habe. Viel Zeit verbrachten sie wohl in der Luft. Das ist nicht mein Revier, ich schlängle mich lieber hier am Boden entlang und sorge dafür, dass die Schorschs dieser Welt um ihr Leben träumen.